Der Schnee fällt ganz sachte




Die schönen Erdbeeren

Eine Kurzgeschichte von Tim Turiak




Nebenan schloss mein Bruder den Kühlschrank und öffnete den Wasserhahn. Jetzt nimmt er meine Erdbeeren, das wusste ich, ohne es zu sehen. Ich hatte sie extra in den Kühlschrank getan, damit sie frisch blieben. Damit ich heute frische Erdbeeren habe. Und jetzt lag ich im Bett und hatte Fieber.

Mein Bruder hantierte in der Spüle und pfiff irgendwas. Er pfiff irgendwas ohne erkennbare Melodie. Das machte er immer, wenn er gute Laune hatte. Zwischendurch unterbrach er sein Ständchen. Bestimmt weil er schon die ein oder andere Erdbeere aß. Er aß schon die ein oder andere Erdbeere, noch während er die restlichen wusch. Da gab´s überhaupt kein Vertun. Sicher nahm er sie aus der Spüle und schlang sie hinunter. Dabei waren es meine Erdbeeren. Die hatte ich doch extra gestern in den Kühlschrank getan, damit ich heute welche habe. Für meine Pläne. Und jetzt lag ich im Bett und hatte Fieber.

Ich schob meine Bettdecke zur Seite und stand auf, weil ich nachschauen wollte. Ich hätte das wirklich nicht tun sollen. Wegen meinem Zustand. Mein Zustand war einfach nicht danach. Aber ich hatte mir doch so viel Mühe mit den Erdbeeren gegeben. Ich war doch extra beim Türken und hatte jede Einzelne ausgewählt, damit keine mit einer matschigen Stelle dabei war. Damit ich ausschließlich schöne Erdbeeren habe. »Ab in die Falle mit dir!«, sagte mein Bruder. »Komm schon, Kleiner!«

Er stand bereits im Türrahmen meines Zimmers, als hätte er´s gerochen. Als hätte er´s gerochen, dass ich mich in die Küche schleppen wollte, um nachzuschauen. Dabei machte er gar keinen Hehl aus seinem Diebstahl. Er hielt die Schale mit den Erdbeeren in der Hand, als wären es seine. Die andere legte er mir auf die Schulter und bugsierte mich zurück ins Bett. Leider war ich zu schwach, um mich zu wehren. Viel zu schwach. Und selbst wenn ich gesund gewesen wäre, hätte das zu nichts geführt. Mein Bruder war nicht nur ein Kopf größer, sondern auch viel stärker als ich.

Bevor ich auf die Matratze fiel, versuchte ich noch einen Blick in die Schale zu werfen, um die Erdbeeren zu zählen. Es fehlte bestimmt schon die ein oder andere. Es fehlte bestimmt schon die ein oder andere, weil er sich einfach nicht beherrschen konnte. »Möchtest du eine?« Mein Bruder setzte sich auf die Bettkante, nahm eine tropfende Erdbeere aus der Schale und hielt sie mir vor den Mund. »Es sind doch meine Erdbeeren! Die habe ich von meinem eigenen Geld gekauft. Beim Türken.«, flüsterte ich. Ich hatte mir doch soviel Mühe mit den Erdbeeren gegeben. Wegen meiner Pläne. Ich wollte sie heute mit einem Mädchen teilen. Die Erdbeeren und eine Flasche Schmunzelwasser.

»Sei nicht so neugierig.«, erwiderte er und schob sich eine weitere Frucht in den Mund.

»Jetzt sind sie schon gewaschen«, sagte mein Bruder, »Friss oder stirb.« Darauf schob er sich eine in den Mund. Aber ich wollte nicht. Ich wollte noch nicht einmal mehr mit ihm reden. Stattdessen dachte ich daran, wie es wohl jetzt mit dem Mädchen wäre. Wie wir die schönen Erdbeeren essen und dabei das Schmunzelwasser trinken. Ich hätte sie wohl danach geküsst. Ich hätte sie wohl danach geküsst und ihr ganzer Mund würde nach den Erdbeeren schmecken. Und jetzt lag ich im Bett und hatte Fieber.

»Dann eben nicht!«, sagte mein Bruder. »Ich nehm´ sie dann mit. Das ist doch in Ordnung, wenn ich sie mitnehm´. Du willst sie ja nicht.« Nachdem er sich aufs Neue eine Erdbeere in den Mund geschoben hatte, sagte er »Mmmmh.« und dann noch mal »Mmmmh.« Es war völlig übertrieben. Er machte es nur, um mich zu ärgern. »Wohin willst du denn mit den Erdbeeren?«, fragte ich ihn. Wenn er sie schon mitnahm, konnte er mir wenigstens sagen wohin. »Sei nicht so neugierig.«, erwiderte er und schob sich eine weitere Frucht in den Mund.

»Du könntest sie mir zumindest ersetzen.«, sagte ich. Wenn er mir sie ersetzen würde, hätte ich wenigstens morgen oder übermorgen Erdbeeren. Dann konnte ich immer noch das Mädchen fragen, ob wir sie im Park essen gehen. Es wären ja nur ein zwei Tage. Ein zwei Tage würden den Braten auch nicht fett machen. »Du könntest mir wenigstens das Geld für sie wiedergeben, wenn du schon die ganze Schale auffutterst.« Ich hatte leider nicht so viel Geld, um dauernd neue zu kaufen. Und Bares war mir lieber, als wenn mein Bruder Erdbeeren besorgte. Er würde nämlich nicht darauf achten, dass keine mit matschigen Stellen dabei waren. Er würde nicht darauf achten und einfach die erstbeste Schale nehmen. Mein Bruder achtete nie auf etwas.

»Du hast Recht. Ich sollte sie nicht alle auffuttern. Sonst habe ich für gleich keine mehr.« Es bereitete ihm einen Höllenspaß, mir nicht zu verraten, was er mit den restlichen Erdbeeren anstellen wollte. Er wartete nur darauf, dass ich noch einmal frage, bloß damit er ein zweites mal sagen kann, dass er´s nicht verrät. Aber den Gefallen tat ich ihm nicht. Es kümmerte mich auch nicht besonders. Es kümmerte mich sogar rein gar nicht. Stattdessen machte ich mir Sorgen, weil ich wieder zitterte. Ich hätte nicht aufstehen sollen. Ich zitterte schon wieder am ganzen Körper.

»Deine Schulfreundin war gerade da.« Plötzlich horchte ich auf. »Ja? Wann denn? Wann war sie denn da?« »Vor eine halben Stunde oder so. Aber ich wollte dich nicht wecken.« »Das hättest du ruhig tun können.« Sie machte sich sicher Sorgen. Sie machte sich sicher Sorgen um mich, weil ich heute nicht in der Schule war. Warum hatte er mich nicht geweckt? Ich hätte sie beruhigen können. »Was hat sie denn gesagt?« »Keine Ahnung. Sie hat dir die Hausaufgaben dagelassen.« »Ach so. Die Hausaufgaben.« Jetzt war ich doch ein bisschen enttäuscht. Nur die Hausaufgaben also. Bis mir einfiel, dass sie die Hausaufgaben vielleicht nur als Vorwand dagelassen hatte. Als Vorwand, natürlich! In Wirklichkeit machte sie sich bestimmt Sorgen.

»Ihr seid doch nur befreundet, oder?« »Ja. Nur befreundet.« Ich wollte nicht, dass mein Bruder über mein Liebesleben Bescheid wusste. Er würde mich sonst nur damit aufziehen. Er zog mich sowieso mit allem auf. »Dann ist gut.« Wieso sagte er, dass es gut war? Wieso sagte er das? Nichts war daran gut. Nichts. Und trotzdem musste ich unbedingt wissen, was er meinte, wenn er sagt, dass es gut war. »Wieso fragst du? Wieso fragst du, ob wir nur befreundet sind?« »Ach, nichts.« Jetzt hasste ich ihn wirklich.

»Glaub mal ja nicht, dass die Mädchen drauf stehen, wenn einer aussieht wie ein Löschblatt.«

»Du solltest nicht nur Obst und Gemüse essen.«, fuhr er fort. »Du solltest wieder anfangen, Fleisch zu essen. Wie früher. Nimm nur mal die Roulade. Gestern gab´s Roulade und du hast sie nicht angerührt. Wenn du kein Fleisch isst, wirst du immer aussehen wie ein Löschblatt. Guck dir mal deine Ärmchen an. Und dann deine Haut: ganz rosa. Du solltest wirklich mehr in die Sonne gehen. Ein bisschen Bräune. Ein bisschen Bräune würde dir stehen.« Mein Bruder strich mir durch mein ungewaschenes Haar. Das hatte er schon ganz lange nicht mehr getan. Vielleicht machte er sich Sorgen um mich. Vielleicht machte er sich einfach nur Sorgen, weil ich im Bett lag und Fieber hatte. »Glaub mal ja nicht, dass die Mädchen drauf stehen, wenn einer aussieht wie ein Löschblatt.«, fügte er noch einmal hinzu.

Ich blieb stumm, weil ich wusste, dass ich nicht mitreden konnte. Mein Bruder war zwei Jahre älter und kannte sich gut aus. Er kannte sich einfach viel besser aus, insbesondere mit den wichtigen Dingen. Damit meine ich die Sachen, die in der Schule nicht vorkommen. Ich meine die Dinge des Lebens, von denen ich einfach noch nicht so viel wusste. Er wusste soviel von diesen Dingen, weil er andauernd was mit Mädchen hatte. Andauernd. Ich kam schon ganz mit den Namen durcheinander. Weil es so viele waren. »Wenn du dir eine Freundin suchst, guck, dass sie jünger ist als du. Darauf musst du echt Acht geben. Sonst wird es nicht funktionieren. Sonst kannst du dich querlegen und es wird nicht funktionieren.« Er wuschelte mir ein letztes Mal durchs Haar, stieß sich von der Bettkante ab und machte Anstalten, mein Zimmer zu verlassen. In der Tür hatte er es sich wohl anders überlegt und drehte sich noch einmal nach mir um.

»Ihr seid doch nur Schulfreunde, oder? Ich meine, ihr habt nichts miteinander?« »Nur Schulfreunde.«, sagte ich. Obwohl mir kein Grund einfiel, weshalb ihn das etwas anging. Es ging ihn wirklich rein gar nichts an. Vielleicht war er auch deshalb auf einmal so still. Weil er es selbst gemerkt hatte. Weil er es selbst gemerkt hatte, dass es ihn rein gar nichts anging. Mein Bruder schwieg sicher eine geschlagene halbe Minute. Bis es plötzlich aus ihm herausplatzte: »Ich treffe sie nämlich gleich. Aber nur wenn du nichts dagegen hast. Du hast doch nichts dagegen? Du musst nur ein Wort sagen, dann treffe ich sie nicht.« Ich brauchte einen kurzen Moment, um zu verstehen, was er da sagte. Und als ich verstand, wurde ich mit einem Mal sehr nervös. So nervös, dass ich noch mehr schwitzte. Ich schwitzte noch mehr als ich es eh schon tat. Mir fiel dann auch nichts besseres ein, als mich auf die Seite zu drehen und mein Gesicht ins Kissen zu drücken. Ich wollte meinen Bruder nicht mehr sehen. Außerdem hoffte ich zu ersticken. Ich blieb aber leider am Leben. »Nein, hab´ nichts dagegen. Rein gar nichts.«, flüsterte ich ins Kissen. Ich wollte es nämlich nicht zugeben. Ich wollte nicht zugeben, dass ich etwas dagegen hatte und die schönen Erdbeeren nur im Kühlschrank waren, um sie mir heute mit dem Mädchen zu teilen. Es wäre nur lächerlich gewesen. Das wurde mir plötzlich klar. Es wurde mir plötzlich klar, wie lächerlich es war.

»Du musst wissen, wir hatten letztens so einen Moment. Als sie zu Besuch war.«, erklärte mein Bruder. »Ich hab´ sie nur kurz auf dem Flur gesehen, weil sie aufs Klo musste. Da ist es passiert. Da hatten wir so einen Moment.« Das ist ja noch gar nicht lange her, dachte ich. Das ist ja noch gar nicht lange her, da war sie bei mir im Zimmer und wir haben Musik gehört. An dem Nachmittag hatte sie mir viel Privates über sich erzählt. Total viel Privates über sich und ihre Eltern. Sie sagte, dass ihre Eltern alles für sie tun. Das hatte sie mir erzählt. Nur, dass sie überhaupt kein Vertrauen in ihre Fähigkeiten hätten. Kein bisschen Vertrauen. Deshalb hätte sie zu Weihnachten auch nur eine Blockflöte bekommen anstatt einer Gitarre. Dabei hätte sie so gerne eine Gitarre gehabt. Jetzt besitzt sie eine Blockflöte, die sie im Traum nicht anfassen würde. Nicht im Traum. Und dann sagte sie, dass sie auch nicht weiß, warum sie mir das alles erzählt.

Aber vielleicht war das ja auch so ein Moment. Vielleicht hatten wir ja auch einen. Deshalb erzählte sie mir das alles. Weil wir auch einen Moment hatten. Aber dann wurde mir klar, dass sie meinem Bruder bestimmt nichts über ihre Eltern und die Blockflöte erzählt hatte. Nicht auf dem Weg zum Klo. Es musste wohl doch etwas anderes gewesen sein. Etwas, von dem ich keinen Schimmer hatte. Aber ich konnte ihn schlecht danach fragen. Er würde mich nur wieder damit aufziehen. Vielleicht nicht heute. Heute würde er wohl noch Rücksicht nehmen. Aber dann käme es spätesten morgen knüppeldick. Spätestens morgen würde er mich dann damit aufziehen. »Du solltest dir wirklich eine jüngere suchen. Wirklich.«, sagte er. Da hatte er sich schon umgedreht und war aus meinem Zimmer.

Nebenan fiel die Haustür ins Schloss. Mein Bruder war raus mit meinen schönen Erdbeeren. Dabei hatte ich mir so viel Mühe mit ihnen gegeben. So viel Mühe. Und jetzt lag ich im Bett und hatte Fieber.

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6 Kommentare



  1. Ich hoffe ich bin der erste, der hier einen Kommentar hinterlässt. Freue mich sehr darauf danach den Text zu lesen. Viel Erfolg mit Deinem Blog Tim!

  2. Toller Text. Lieber Tim, darf ich den nehmen für die Studis und ein Editorial-Projekt? (Nicht kommerziell, keine Veröffentlichung, nur zu Studienzwecken.) Bin gerade auf der Suche nach zeitgenössischen Texten.
    Herzliche Grüße,
    Nora

  3. Den Text merke ich mir vor! 🙂
    Danke schon mal!

    Das Interview mit Paoli und der Frau über das böse Denken fand ich interessant.
    Interessante Seite hier!
    Im positiven Sinne! 😀 Interessant wirkt ja manchmal etwas entwertet, finde ich.




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