Der Schnee fällt ganz sachte




Der Schnee fällt ganz sachte

Eine Kurzgeschichte von Tim Turiak




Er sah gar nicht aus wie auf den Fotos, dachte sie. Da hatte er sich wohl in einem vorteilhaften Licht präsentiert. Und jetzt saß sie hier. Jetzt saß sie hier im Café Rita mit einem, der gar nicht aussah wie auf den Fotos.

»So.«, sagte der junge Mann. »Jetzt habe ich so viel über mich erzählt und weiß fast gar nichts über dich.«

»Da gibt es nicht viel.«, erwiderte sie. »Da gibt es gar nicht so viel.«

»Das kann ich gar nicht glauben!« In seiner Stimme schwang jetzt ein Ton leichter Entrüstung, der ihr womöglich sympathisch erschienen wäre, wenn sie auch nur die geringsten Ambitionen gehegt hätte, sich in der Unterhaltung zu engagieren. Tatsächlich starrte die junge Frau lieber aus dem Fenster und beobachtete, wie sich die Schneeflocken auf den Bürgersteig setzten und schmolzen.

»Schön mit dem Schnee.«, sagte er. Und schaute ebenfalls nach draußen. »Er fällt ganz sachte. Ist das nicht schön?«

»Was?«, fragte sie. »Ja, stimmt. Schade, dass nichts liegen bleibt. Dafür ist es wohl zu warm.«

»Der Winter hat ja gerade erst angefangen. Warte mal ab. In ein paar Tagen wird hier alles wie in einer Schneekugel sein. Das habe ich im Wetterbericht gehört. Wie in einer Schneekugel – das haben sie da wortwörtlich gesagt.«

Sie entschloss sich, ihn noch einmal anzusehen. Vielleicht half es ja. Vielleicht half es, ihn einfach noch einmal von oben bis unten anzusehen. Im Grunde genommen sah er doch ganz manierlich aus. Er hatte zum Beispiel ein ordentliches Kreuz – das war schon mal was. Und dieses Kreuz gehörte zu einem Gerüst, das stattlich in die Höhe wuchs. Er war bestimmt einsfünfundachtzig groß – das konnte sie abschätzen, obwohl er saß. Was noch? Hände. Hände waren ihr wichtig. Oft haperte es ja an so Details wie den Fingernägeln. Aber selbst die waren sauber, geschnitten und gefeilt. Eigentlich kam der arme Kerl ganz ohne größere Fehler aus. Nur diese Augen ruinierten einfach alles. Seine Augen sahen wie halb getrocknetes Uhu aus, dachte sie, Uhu, in dem sich zwei Fliegen verfangen hatten. Sie mussten es wohl vom Weiten für Apfelkompott gehalten haben. Dabei war es nur Uhu. Und jetzt zuckten sie wie wild hin und her. Über eine halbe Stunde hatte sie ihren Todeskampf beobachtet. So langsam verlor sie die Geduld.

»Wenn wir immer nur Dinge tun, die nötig sind, dann wären wir ja nichts weiter als Zwerge.«

»Noch einen Cappuccino, bitte.«, rief der junge Mann dem Kellner zu. »Für dich auch noch einen?«

»Ich hab noch.«, sagte sie. In ihrer Tasse befand sich ein kümmerlicher Rest Schaum. Den wollte sie noch auslöffeln. Es war genau die richtige Menge, sagte sie sich, um die Angelegenheit einerseits nicht unnötig in die Länge zu ziehen und andererseits nicht ganz unhöflich zu sein und sofort aufzuspringen. Es hätte ja durchaus was werden können. Wenn er nicht diese Augen besäße. Mit denen sah er so beschmiert aus. So unendlich beschmiert.

»Sonntags besuche ich immer meine Eltern.«, sagte sie. »Meine Mutter kocht dann sehr aufwendig.«

»Wie schön.«, sagte er. »Familie ist am Ende das Wichtigste. Ich weiß, es ist ein Klischee, aber ich sag es trotzdem immer wieder.«

»Leider muss ich da gleich auch noch hin.«

»Ach, das verstehe ich sehr gut. Es geht doch nichts über …«

›Fump‹ machte die Tür in ihrem Rücken. Die junge Frau musste sich schütteln, als ihr der kalte Luftzug über den Rücken strich.

»Wollen wir die Plätze tauschen?«, fragte er besorgt. »Ich meine wegen dem Luftzug.«

»Nein. Das ist wirklich nicht nötig. Ich muss eh …« Sie drehte sich kurz zur Tür, denn sie wollte ihren Satz zu Ende führen, ohne die Enttäuschung in seinem Gesicht ertragen zu müssen. Da sah sie mit Schrecken, wie sich ein Rosenverkäufer ihrem Tisch näherte. Hoffentlich kauft er mir jetzt keine, dachte sie. Hoffentlich kauft er mir jetzt bloß keine Rose. »Nein, Danke.«, sagte jemand am Nachbartisch. Und das beruhigte sie für den Moment. Vielleicht nahm er sich ja ein Beispiel daran. Vielleicht sorgte sie sich einfach unnötig.

»Eine Rose für die Dame?«, fragte der Verkäufer nun in Richtung ihres Gegenübers. Der junge Mann rutschte nervös mit dem Hintern hin und her und die Fliegen in seinen Augen flitzten noch schneller als sie es sonst taten. Er war sich ganz unschlüssig, dachte sie, die Sache konnte also noch haarig werden. Und so versuchte sie, ihr Gesicht von allem zu entleeren, das auch nur im Entferntesten Ähnlichkeit mit einer Aufmunterung haben könnte. Nach einer Ewigkeit von ein paar Sekunden sagte der junge Mann schließlich: »Ja, eine, bitte.«

»Das ist wirklich nicht nötig.«, protestierte sie sofort als ihr klar wurde, dass pure Gedankenkraft ihn nicht abhalten würde, diese ausgesprochene Dummheit zu begehen. Doch da war es schon zu spät. Wie unangenehm, dachte sie. Wie absolut unangenehm.

»Wenn wir immer nur Dinge tun, die nötig sind, dann wären wir ja nichts weiter als Zwerge.«, erwiderte er, drückte dem Verkäufer drei Euro in die Hand und nahm die Blume entgegen.

Meine Güte, was er hat er sich bloß dabei gedacht? Die junge Frau beschloss, dass es wohl das Beste war, den Vorfall soweit es ging, zu ignorieren. Noch nicht einmal Danke wollte sie sagen. Noch nicht einmal das.

»Woher sie wohl kommen jetzt so im Winter?«, fragte der junge Mann, der so offensichtlich gar nichts von ihrem Plan ahnte. Dabei zwirbelte er den Blumenstiel zwischen Zeigefinger und Daumen, als wüsste er auch nicht so genau, wie die Sache jetzt am besten zu Ende gebracht werden sollte. Schließlich rang er sich dazu durch, die Rose einfach neben ihrer Cappuccino-Tasse zu deponieren.

»Aus Holland. Aus dem Gewächshaus. Um diese Jahreszeit wachsen natürlicherweise keine Rosen. Nur im Gewächshaus.« Sie wusste nicht, was sie jetzt schlimmer finden sollte: die Rose oder die Verschämtheit, mit der der junge Mann sie ihr unterschob.

»Ach, im Gewächshaus? Wie Tomaten also.«

»Ja, ganz artifiziell. Wie Tomaten.«

»Hmmm.«, sagte er und dann war es ganz still. So still, dass man das Geschirr in der Küche klappern hörte.

Ob er wohl wusste, wie unendlich beschmiert er mit diesen Augen aussah?

»Es ist schon spät geworden. So langsam müsste ich …«, sagte die junge Frau als der Kellner eine frische Tasse Cappuccino servierte.

»Ach, schon?«

»Ja. Es wird wirklich Zeit für mich.« Das erklärte sie bestimmter als sie eigentlich müsste. Davon war sie selbst überrascht. So bestimmt sprach sie sonst selten.

»Aber es war ganz schön, nicht wahr?« Seine Stimme schlich über den Tisch als wollte sie irgendwas stehlen und dabei möglichst nicht erwischt werden.

»Ganz schön. Tatsächlich.«, log sie. Und es tat ihr fast ein wenig leid. Denn wahrscheinlich wäre es wirklich ganz schön geworden, wenn er nicht diese Augen aus Uhu besäße. Mit den Fliegen drin. Dabei sah sein Gesicht ansonsten ganz ansehnlich aus. Aber seine Augen, herrjemine! – Sie mussten sich ganz einsam vorkommen, in dem ansonsten ganz ansehnlichen Gesicht. Sie klebten dort wie Provisorien. Als wären die Originale einfach wie schlecht angenähte Knöpfe abgefallen. Ob er wohl wusste, wie unendlich beschmiert er mit diesen Augen aussah?

»Sehen wir uns bald wieder?«, fragte er.

»Ja. Ich melde mich.«, erwiderte sie.

»Ach, vergiss deine Rose nicht. Es wäre doch schade um die schöne Rose.« Sie meinte, etwas Flehentliches in seiner Stimme gehört zu haben. Und da wurde sie jetzt doch ganz hektisch.

»Ich bin nicht so eine. Tut mir leid. Ich bin nicht so eine, die Rosen zu Hause hat. Im Winter aus dem Gewächshaus. So eine bin ich wirklich nicht.«

Sie warf sich in ihren Mantel, winkte kleinlaut mit der rechten Hand und griff nach ihrer Handtasche. Im nächsten Moment war sie auch schon aus der Tür. Draußen hielt die junge Frau noch einmal kurz inne, um ihren Knirps aufzuspannen. Sie beeilte sich, da sie instinktiv wusste, dass er ihr hinterher sah. Sie musste sich gar nicht umdrehen, um sicher zu gehen. Er war ganz klar so einer, der noch lange hinterher sah, das wusste sie und tappte in einem Tempo davon, als galt es noch schnell, den Bus zu kriegen.

Im Café hing ein geknickter Strich mit der Nase im Cappuccino. »Ich melde mich.«, hauchte er ungläubig in den Milchschaum. Dabei hatte er gedacht, er hätte sie am Haken. Sie hat ihm doch die ganze Zeit in die Augen gestarrt, ganz so, als hätte er sie am Haken. Es war wohl die Rose. Die war wohl am Ende zu viel. Der junge Mann zog sich seine Jacke an, bezahlte die Rechnung und verließ das Café. Vor der Tür atmete er einmal tief ein und aus, so dass es warm aus ihm heraus dampfte. Bescheuert, dass das Leben so schwer ist, flüsterte er. Dann zündete er sich eine Zigarette an und beobachtete, wie die Schneeflocken stumm zu Boden rieselten. Wie friedlich, dachte er und streckte die Zunge heraus bis sich eine Flocke auf die Spitze setzte und verging. Dann stiefelte er nach Hause.

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